Sonntag, 6. November 2016

Das Erwachen

Ein Ruck ging durch die Kutsche und Abigail schreckte hoch. War sie schlussendlich doch eingeschlafen auf dieser langen, stressigen Fahrt? Nie wäre sie auf die Idee gekommen, im Spätherbst nach York zu fahren. Dafür war die Strecke einfach viel zu lang, beschwerlich und erschwerend hinzu kamen die Herbststürme mit ihren Regengüssen. Dadurch wurden die Straßen zu einer einzigen Tortur für Pferd und Kutsche. Abigail spürte den Briefumschlag in ihrer Hand. Onkel Edward hatte ihn vor über drei Monaten zu ihrem Wohnsitz in New York geschickt. In der Kutsche war es zu dunkel zum Lesen, doch konnte sie sich an jedes Wort in dem Brief erinnern.

Liebste Nichte,

zu meinem Verdruss haben wir uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich immer mit Freude an die Zeit, in der du in meinem Anwesen hier auf Newcastle House aufgewachsen bist. Der Schmerz über den Verlust deiner Eltern saß uns beiden gleichwohl tief im Herzen. Umso mehr war es mir eine Freude, dafür zu sorgen, dass du wohlbehütet aufwächst und eine angemessene Ausbildung erhalten hast. Aber wie es immer so ist; die Küken werden erwachsen und verlassen das behütete Nest. Ich freue mich sehr, dass es mit deiner Anstellung beim New York Herald geklappt hat. Auch wenn du erst einmal kleine Artikel verfasst, gib niemals auf. Schließlich hast du immer davon gesprochen, die Welt zu bereisen und von deinen Erlebnissen zu berichten. Du erfüllst mich mit großem Stolz, liebste Abigail, und ich hoffe ich konnte dir alles auf den Weg mitgeben, um deine Ziele zu erreichen.
Umso mehr betrübt es mich, dich aus deinem neuen Umfeld herausreißen zu müssen. Jedoch ist deine Anwesenheit hier unabdingbar auf Newcastle House. Leider ist es nicht möglich, dir weitere Informationen zukommen zu lassen, da ich nicht weiß, wer alles diesen Brief lesen könnte. Bitte begib dich so schnell es geht auf den Weg. Um eine Kutsche habe ich mich gekümmert, welche am 15. Oktober in New York Richtung York abfährt. Mister Frisco ist ein sehr verlässlicher Mann, er wird dich sicher zu mir bringen.

In besten Gedenken an dich verbleibend 

Edward Newcastle

Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, den Brief das erste Mal gelesen zu haben. Noch nie war ihr Onkel so dringlich gewesen, was ihr Angst machte. War Edward doch ein Mann, der immer aufrecht und furchtlos durchs Leben ging. In seinen jungen Jahren begab er sich auf eine Reise nach Afrika, um den dunklen Kontinent zu erkunden. In Abigails Kindertagen hatte er ihr davon jeden Abend vor dem zu Bette gehen Geschichten vorgetragen. Sie konnte sich einfach nicht erklären, warum ihr Onkel so geheimnisvoll blieb in seinem Schreiben. Daher ging sie den Tag darauf zu ihrem Chefredakteur Mr. Bennet Senior, um sich für die Reise vom Dienst freizustellen. Mr. Senior willigte nach langem hin und her zum Glück ein, doch auf meinen Lohn musste ich für diese Zeit jedoch verzichten. Er war zwar ein mürrischer Zeitgenosse allerdings mit einem Herz am rechten Fleck. Zum Glück lebte sie mietfrei in einer von Onkel Edwards New Yorker Wohnungen, ansonsten hätte sie sich die Reise nicht einmal ansatzweise leisten können. Eine Woche später holte sie die Kutsche an ihrer Wohnung ab. Da der Brief so lange unterwegs war hatte sie nicht allzu viel Vorbereitungszeit. Das war auch einer der Gründe warum Mr. Senior zugestimmt hatte. Trotzdem waren alle Dinge hier in New York geregelt und die Koffer gepackt. Der Mann, welcher sich ihr als Gordon Frisco vorstellte, klopfte an ihrer Tür und half ihr, alle Sachen in die Kutsche zu packen. Zu ihrem Bedauern war Mister Frisco wirklich sehr schweigsam. Am 15. Oktober ging die Reise an einem regnerischen Morgen in Richtung York los. Zuerst ging die Fahrt schnell voran, doch je weiter sie Richtung Norden fuhren, umso schwieriger wurde das Gelände. Der stetige Regen sorgte die ersten Tage für immer schlammigere Wege, immer tiefer sanken die Räder im Morast ein. Die Pferde gaben sich alle Mühe um die Kutsche schnell auf der unbefestigten Straße voranzubringen, doch kamen sie recht bald an die Grenze ihrer Kräfte. Nach vier Tagen schlug das Wetter mit voller Wucht zu. Sturmböen ließen die Kutsche immer wieder schwanken. Regen ergoss sich in langen Fäden auf die Erde nieder. "Wir werden alsbald eine Pause einlegen müssen, Miss Newcastle. Ich denke die Pferde machen es ansonsten nicht mehr allzu lange." rief Mister Frisco zu ihr herunter. Abigail streckte den Kopf aus dem Fenster heraus. Starker Wind und Regen peitschten ihr ins Gesicht, sie versuchte so laut es ging zu rufen, "Wo wollen wir denn unterkommen bei diesem Wetter? Es ist doch weit und breit keine Herberge in Sicht Mister Frisco." Er lachte laut auf wobei er die Zügel kräftig schnalzen ließ. "Keine Sorge in ein paar Meilen kommen wir an einer Poststelle vorbei. Dort können wir die Nacht ausruhen und den Pferden ihre Pause gönnen. Nun ja, sofern wir diesen Sturm überstehen." Seine Stimme schwang im Wind mit, sein Lachen, so schien es, trieb ihn und die Pferde zu neuen Höchstleistungen an. Abigail schloss das Fenster wieder, in der Hoffnung er möge Recht behalten. Ein Bett wäre zur Abwechslung wirklich schön. Die letzten Tage hatte sie zusammengerollt auf der Bank gelegen, während Mister Frisco es sich auf der gegenüberliegenden Bank bequem machte. Decken aus Schafsfell sorgten die Nacht über für die nötige Wärme. Nach einigen Stunden Fahrt - die Nacht war schon längst hereingebrochen - hört sie wieder Mister Friscos Stimme, "Wir sind an der Poststation angekommen, Miss. Warten Sie in der Kutsche, ich kümmere mich um alles." Die Kutsche wurde langsamer und hielt schließlich an. Durch das Fenster konnte Abigail eine recht alte Hütte mit angeschlossener Scheune sehen. Kein Licht schien aus dem Fenster des Hauses. Mister Frisco ging mit einer Laterne in der Hand Richtung Tür. Über dieser stand der Schriftzug "Poststation" in verwitterten Buchstaben. Er klopfte mit seiner behandschuhten Rechten an die Tür. "Hallo? Jemand da? Hallo?" Nirgendwo war eine Reaktion zu vernehmen. Er versuchte daraufhin die Tür zu öffnen, was ihm überraschenderweise auch gelang.
Für kurze Zeit verschwand er aus ihrem Blickfeld, um sich in dem Haus umzusehen. Nach kurzer Zeit schritt er auf die Kutsche zu und klopfte an die Scheibe. Abigail öffnete das Fenster. "Miss Abigail, es ist niemand da. Ich vermute, sie haben sich in Sicherheit vor dem Sturm gebracht. Lassen Sie mich ihre Sachen ins Haus bringen, dann versorge ich die Pferde."
Sie stieg schnell aus und eilte, die Kleidung eng an sich gezogen, zum Haus hinüber. Der Boden war matschig und das ein oder andere Mal wäre sie beinahe ausgerutscht. Mister Frisco schien schon ein Licht angezündet zu haben, denn ihr flackerte ein leichter Schein entgegen als sie sich der Tür näherte. Hinter ihr wieherten die Pferde, woraufhin sich Abigail zu ihnen umdrehte. In dem Moment sah sie noch aus dem Augenwinkel einen Schatten die Lichtquelle verdecken.
"Mister Frisco? Sind Sie schon im Haus?" Sie wich ein paar Schritte von der Tür. "Nein, Miss, ich bin gerade in der Scheune. Ist etwas? Licht sollte schon im Haus sein. Ich bin gleich bei Ihnen mit dem Gepäck."






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